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Nach mir die Sinnflut

Модераторы: Dragan, Valer'janka

Nach mir die Sinnflut

Сообщение усталый нищеброд » Вт мар 16, 2021 01:41

Der Spiegel писал(а):110-114 DER SPIEGEL Nr. 11 / 13.03.2021
Nach mir die Sinnflut
Sprache Stimmt die Behauptung,
dass junge Menschen immer mehr
Rechtschreibfehler machen?
Das Beharren auf korrekter Rechtschreibung
gilt vielen als uncool und zopfig.
Eine Auswertung von Abiturklausuren zeigt:
leider ja. Doch wer nicht korrekt schreiben
kann, wird auch nicht verstanden.

Von Martin Doerry

Die äußere Form sei ihm »schon
noch sehr wichtig«, gesteht Die-
ter Toder, 65, Direktor des Gym-
nasiums in Gaienhofen am Bo-
densee. Ein Bewerbungsschreiben mit
zwei oder drei Fehlern etwa lege er in der
Regel gleich beiseite. »Das mag alte Schule
sein«, aber wer als Lehrerin oder Lehrer
arbeiten wolle, müsse nun einmal die
Rechtschreibung beherrschen.
Dass das nur noch selten der Fall sei,
klagen nicht nur erfahrene Schulleiter: Ob
Personalchefinnen großer Unternehmen
oder Ausbilder in Handwerksbetrieben,
ob Filialleiterinnen von Supermärkten
oder Behördenchefs – sie alle nehmen
irritiert zur Kenntnis, dass viele ihrer Nach-
wuchskräfte immer mehr Fehler beim
Schreiben machen.
Besonders dramatisch sei die Lage bei
den Erstsemestern, heißt es an den Uni-
versitäten. Mehr als ein Viertel der Lehr-
amtsstudierenden, so zeigt eine Studie aus
Nordrhein-Westfalen, verfügen »nicht oder
nicht in akzeptablem Umfang über die
sprachlichen Mittel«, die für ein Studium
notwendig sind. Auch viele Jurastudieren-
de, so haben Bochumer Wissenschaftler
beobachtet, machen »teilweise eklatante
Rechtschreibfehler« und besitzen nur
»mangelhafte« Grammatikkenntnisse.
Mancherorts werden schon die Krite-
rien für Aufnahmeprüfungen dem sinken-
den Niveau angepasst. Selbst bei der Bun-
despolizei wurde unlängst die Fehlertole-
ranz bei den Prüfungsdiktaten angehoben,
offenbar hätte man andernfalls nicht ge-
nügend qualifizierte Bewerber oder Be-
werberinnen gefunden.
Aber ist das alles neu? War früher wirk-
lich alles besser? Viele Experten würden
diese Fragen wohl grundsätzlich bejahen.
In einer Reihe von Studien haben sie nach-
gewiesen, dass junge Berufstätige, aber
auch Schülerinnen und Schüler aller Al-
tersstufen immer mehr Rechtschreibfehler
machen – das allerdings schon seit einiger
Zeit. Der Fehlerquotient pro Diktat oder
Aufsatz steigt fast kontinuierlich an. 2013
machte der SPIEGEL die »Rechtschreib -
katastrophe« zum Titelthema.
Diese Alarmmeldungen werden aller-
dings von manchen Pädagogen auch kriti-
siert. Wer heute 50 Jahre alte Testdiktate
schreiben lasse, so argumentiert etwa der
Bremer Grundschulpädagoge Hans Brü-
gelmann, müsse sich über schlechte Ergeb-
nisse nicht wundern: Der Wortschatz und
die soziale Zusammensetzung der Schü-
lerschaft hätten sich extrem verändert. So
ist zum Beispiel der Anteil der Heranwach-
senden mit Migrationshintergrund erheb-
lich gestiegen.
Was bislang fehlt, ist ein Leistungsver-
gleich, der von solchen Veränderungen
nicht tangiert wird: ein Vergleich hand-
schriftlicher Dokumente aus den Siebzi-
ger- oder Achtzigerjahren etwa mit eben-
falls handgeschriebenen Texten der Ge-
genwart, die aus einem sozial und kulturell
annähernd identischen Pool stammen.
Nur so ließe sich klären, ob es mit der
Rechtschreibung wirklich bergab geht.
Ein glücklicher Zufall hat dafür gesorgt,
dass in der Schule Dieter Toders ein Quel-
lenkonvolut aufgefunden worden ist, das
einen solchen Leistungsvergleich möglich
macht. Eigentlich werden die Abiturklau-
suren an Gymnasien nach wenigen Jahren
geschreddert. In Gaienhofen jedoch exis-
tieren noch zwei komplette Jahrgänge aus
dem 20. Jahrhundert, die Abiklausuren
aller Fächer der Jahre 1984 und 1985.
Warum sie aufbewahrt wurden, weiß
niemand mehr. Fast 35 Jahre lang blieben
die bunten Kartonumschläge mit den Klau-
suren unbeachtet in einem Magazin auf
dem Dachboden und verstaubten. Die
meisten Gummibänder, mit denen sie zu-
sammengehalten wurden, waren längst zu
roten Krümeln zerfallen, als ein Schul -
archivar 2019 den Papierhaufen barg. Der
Dachboden sollte saniert, das alte Zeug in
ein Nebengebäude transportiert werden.
Die Evangelische Schule Schloss Gaien-
hofen besteht heute aus einem allgemein-
bildenden Gymnasium, einem Aufbau-
und Wirtschaftsgymnasium sowie einer
Realschule. 1985 existierte nur das Gym-
nasium mit dem angeschlossenen Internat.
Eine Eliteschule wie das nicht weit entfern-
te Salem war Gaienhofen nie. Aber bis
heute schickt vor allem das Bildungsbür-
gertum der Region westlich von Konstanz
seine Sprösslinge auf die kirchliche Privat-
schule. Kinder von Künstlern und Schrift-
stellern wie Otto Dix, Martin Walser und
Rolf Hochhuth besuchten das Gymnasium;
der Autor Bodo Kirchhoff machte in Gai-
enhofen sein Abitur.
2013 wurde das Internat aufgelöst und
das monatliche Schulgeld gesenkt, derzeit
beträgt es 112 Euro. Der Anteil von Kin-
dern mit Migrationshintergrund liegt nach
wie vor deutlich unter zehn Prozent. Ein
Grund: Evangelischer oder katholischer
Religionsunterricht sowie der Besuch von
Gottesdiensten sind obligatorisch.
Anders als in vielen Großstadtgymna-
sien blieb die Schülerschaft im ländlichen
Gaienhofen also weitgehend homogen.
Verändert haben sich freilich die Rahmen-
bedingungen für das Abitur. Damals gab
es noch das 13. Schuljahr, heute müssen
zwölf Jahre bis zum Abi reichen. Während
man 1984 und 1985 Deutsch als Klausur-
fach abwählen durfte, ist das in Baden-
Württemberg heute nicht erlaubt. In den
Achtzigerjahren machten 30 Prozent der
Abiturientinnen und Abiturienten in Gai-
enhofen von dieser Möglichkeit Gebrauch –
wahrscheinlich weil sie in anderen Fächern
mit besseren Noten rechneten. Insgesamt
liegen 67 Deutschklausuren aus den Jah-
ren 1984 und 1985 vor.
Das Gaienhofener Gymnasium stellte
dem SPIEGEL nicht nur diese Arbeiten,
sondern auch Kopien von 105 Deutsch-
Abiturklausuren der Jahrgänge 2018 und
2019 zur Verfügung. Die Texte stammen
ausschließlich aus dem gymnasialen Zweig,
also nicht aus dem Wirtschaftsgymnasium.
Einbezogen wurden jedoch nur jene
73 Arbeiten aus den Jahren 2018 und 2019,
die im oberen Teil des Notenspektrums
liegen, zwischen 6 und 15 Punkten, rund
70 Prozent der Klausuren. Andernfalls
wären auch die schwächsten Schülerinnen
und Schüler in die Berechnungen aufge-
nommen worden – eine Gruppe, die 1984
und 1985 auf andere Fächer im Abitur aus-
weichen konnte.
Die Auswertung erforderte einen erheb-
lichen Aufwand. 140 Klausuren – die meis-
ten zwischen 1500 und 2500, einige sogar
mehr als 3000 Wörter lang – mussten nach
Fehlern in Orthografie, Grammatik und
Interpunktion durchgesehen werden.
Die Handschrift erwies sich dabei als
eine besondere Herausforderung. Früher
schrieben etwa zwei Drittel der Prüflinge
noch Wörter aus verbundenen Buch -
staben, heute macht das nur noch ein Drit-
tel. Vorherrschend ist jetzt eine Schrift
aus kringeligen Einzelbuchstaben, die
manchmal wohl bewusst undeutlich ge-
schrieben werden, um Unsicherheiten zu
kaschieren.
Verändert hat sich in den 35 Jahren auch
der Anteil von Jungen und Mädchen. In
Gaienhofen machten 1984 und 1985 ins-
gesamt 35 Mädchen und 60 Jungen Abitur,
heute liegt der Anteil der Jungen nur noch
bei etwa 45 Prozent. Da die Mädchen im
Durchschnitt bessere Schulnoten erzielen,
müsste sich das Ergebnis, so eine Vermu-
tung, auch bei den Rechtschreibleistungen
eher verbessern.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Aus-
wertung der Orthografie- und Gramma-
tikfehler – und das ist das zentrale Resultat
dieser SPIEGEL-Recherche – zeigt eine
deutliche Verschlechterung. Die Deutsch-
klausuren der Jahrgänge 1984 und 1985
weisen im Durchschnitt einen Fehlerquo-
tienten von 1,5 Fehlern auf 100 Wörter auf,
die Klausuren der Jahrgänge 2018 und
2019 einen Quotienten von 2,2. Das heißt,
heute machen die Abiturientinnen und
Abiturienten fast 50 Prozent mehr Fehler
als die Prüflinge in den Achtzigerjahren.
Dieser Fehlerquotient ist natürlich nur
ein rechnerischer Mittelwert. Die Qualität
der Texte schwankt in allen Jahrgängen
extrem, von makellosen Ausarbeitungen
bis hin zu undurchschaubaren Fehlergebir-
gen, vor denen manche Prüfer irgendwann
kapitulierten. Statt der Fehlerzeichen »R«
(Rechtschreibung), »Gr« (Grammatik) und
»Z« (Zeichensetzung) stehen dann schlich-
te Fragezeichen am Rand.
Ein Beispiel aus einer – allerdings aus
der Wertung genommenen – Klausur des
Jahrgangs 2018, gefordert war die Inter-
pretation zweier Gedichte von Theodor
Fontane und Alfred Lichtenstein: »Die
Realization der Isolation bringt dem lyri-
schen Ich zu weinen. Das Klopfen seines
Herzens ist hier das einzige Zeichen des
Lebens. Die heiße Tränen sind die einzige
Quelle der Wärmer in dieser Nacht.«
Und ein paar Zeilen weiter: »Die Para-
taxe, die das Gedicht bilden, entstehen
durch Enjambement und vollständigen
den Chaos des lyrischen Sprechers. Die
Verstärkerung des Chaos kommt dadurch,
dass hier kein Reimschema zu finden ist.«
Trotz dieser Textkatastrophe erhielt der
Prüfling noch 4 Punkte, also eine 4 –. Mit
einem höheren Schwierigkeitsgrad bei der
Aufgabenstellung lässt sich dieser Zuwachs
an Schreibfehlern nicht erklären. Damals
wie heute hatten Schülerinnen und Schü-
ler die Wahl aus fünf Themen, darunter
Interpretationen literarischer Klassiker
oder zeitgenössischer Romane, aber auch
Essays über aktuelle Trends wie das Ende
der Briefkultur (1985) oder das Konzept
der »Leichten Sprache« (2018). Die Kom-
plexität der Aufgaben ist weitgehend ver-
gleichbar.
Kaum verändert hat sich auch die Zahl
der Fehler bei der Zeichensetzung. Im
Durchschnitt ist sogar eine leichte Verbes-
serung zu beobachten, der Fehlerquotient
sank hier von 2,2 in den Klausuren von
1984 und 1985 auf 2,1 in den Arbeiten
von 2018 und 2019.
Die Schülerinnen und Schüler wussten
allerdings, dass Interpunktion für die Ge-
samtnote kaum relevant ist. 2018 konnte
man zum Beispiel mit fast 90 Zeichen -
fehlern in der Abiklausur noch 13 Punkte
bekommen, also eine 1–. Die Sprachnote
macht nur ein Drittel der Gesamtnote aus
und berücksichtigt nicht nur Orthografie-,
Grammatik- und Interpunktionsfehler, son -
dern auch die Qualität des Ausdrucks.
Eine Erklärung für die leichte Verbesse-
rung bei der Interpunktion liegt auf der
Hand: Die Rechtschreibreform hat die
Regeln für die Zeichensetzung stark libera -
lisiert, sodass es schwieriger geworden ist,
Fehler zu machen. Vor dem erweiterten
Infinitiv, zum Beispiel, muss nicht mehr in
jedem Fall ein Komma gesetzt werden.
Die früher gern verwendete Ausrede,
man habe erst die alte und dann die neue
Rechtschreibung erlernen müssen und wis-
se nun gar nicht mehr, was richtig oder
falsch sei, können die Abijahrgänge 18 und
19 nicht mehr für sich in Anspruch neh-
men. Sie wurden fast alle 2006 oder 2007
eingeschult, also etwa zum Zeitpunkt der
Reform der Reform im Jahr 2006.
Dennoch hat die Rechtschreibreform
die Schreibkompetenz beeinflusst. Bei den
s-Lauten nach kurzen und langen Vokalen
(s, ss oder ß) gibt es zwar nur geringe Ver-
änderungen zwischen den Achtzigerjahren
und heute. Der Wegfall des »ß« bei »daß«
hat jedoch offenbar Verwirrung gestiftet.
Heute werden bei der Unterscheidung von
»das« und »dass« etwa doppelt so viele
Fehler gemacht wie früher bei »das« und
»daß«. Die Fehlerzahl bei der Getrennt-
und Zusammenschreibung – einem Kern-
bereich der Reform – hat sich sogar ver-
dreifacht. Die von den Reformern ver -
sprochenen Verbesserungen sind also in
Gaienhofen nicht eingetreten.
Manche Deutschdidaktiker behaupten,
die Schülerinnen und Schüler seien durch-
aus in der Lage, zwischen der in der Schule
geforderten korrekten Rechtschreibung
und ihrer privaten Handykommunikation
zu unterscheiden. Diese These lässt sich
mit Blick auf die Gaienhofener Ergebnisse
nicht bestätigen.
Auf dem Smartphone wird zumeist mit
Kleinbuchstaben oder Abkürzungen ge-
schrieben. Wer diese Praxis auf die Abi-
klausur überträgt, bekommt das als Fehler
angestrichen. Das wissen die Prüflinge na-
türlich, und doch finden sich in ihren Klau-
suren heute ungefähr dreimal so viele Feh-
ler bei der Groß- und Kleinschreibung wie
in den Achtzigerjahren. Die auf dem
Handy praktizierte Kleinschreibung hin-
terlässt also Spuren.
Schwierigkeiten haben die Teenager
auch mit bestimmten Begriffen, die in ihrer
Lebenswirklichkeit keine Rolle mehr spie-
len. Ein klassisches Café etwa scheinen
heute nur noch wenige zu kennen, seit
Starbucks den Markt erobert hat. In den
Abiklausuren geht man nun meistens ins
»Kaffee«. Ähnliche Probleme hatten aber
auch schon frühere Generationen. »Nach
mir die Sinnflut«, schrieb 1984 ein Prüf-
ling. Von einer Sintflut hatte er oder sie
wahrscheinlich noch nie gehört.
Natürlich wuchsen die Schülerinnen
und Schüler in den frühen Achtzigerjahren
noch in einer völlig anderen Medienwelt
auf, einer Welt ohne Privatfernsehen, In-
ternet und Handy; Computerspiele, Walk-
man und Heimcomputer traten gerade erst
ihren Siegeszug an. Das heißt, die Gene-
ration der in den Sechzigerjahren Gebo-
renen war noch nicht jenem vielfältigen
Zerstreuungsangebot ausgesetzt, mit dem
es die junge Generation heute zu tun hat.
Wer jeden Tag Stunden bei Instagram,
YouTube oder TikTok verbringt, hat we-
niger Zeit, Bücher zu lesen. Aber genau
das gilt Pädagogen als eine ebenso simple
wie effektive Methode, die Regeln der
Rechtschreibung zu trainieren.
Schulleiter Toder zufolge taugen aller-
dings viele gedruckte Texte kaum noch
als Vorbilder: »Wenn ich ständig in den
großen Zeitungen und Magazinen Fehler
finde, dann denke ich mir, man möge bitte
bei den Schülern keine anderen Maßstäbe
anlegen als bei Redakteuren oder Jour -
nalisten.«
In der Tat haben sich viele Fehler, die
in Abiklausuren stets angestrichen werden,
längst in der gängigen Schriftsprache eta -
bliert. Falsche Konjunktivformen in der
indirekten Rede etwa sind inzwischen weit
verbreitet (beispielsweise »Trump sagt, Bi-
den hat keine Ahnung« statt »Trump sagt,
Biden habe keine Ahnung«). Die Verwen-
dung des Genitiv-s nach Apostroph wie
im Englischen oder der falsche Dativ statt
des Genitivs (»die Farbe von dem Haus«
statt »die Farbe des Hauses«) irritieren
offenbar nur noch wenige – in der Abi-
klausur wird all das geahndet.
Immerhin wird wieder mehr geschrie-
ben als früher. Während Teenager in den
Achtzigerjahren meist per Festnetztelefon
kommunizierten, läuft heutzutage viel
über Textnachrichten – eine eigene Zei-
chenwelt allerdings, mit vielen Kürzeln
und Emojis. »Meistens schreiben wir bei
WhatsApp«, berichtet Yaren Yildirim, 17,
Schülersprecherin in Gaienhofen, die in
diesen Tagen selbst in den Abiturvorbe-
reitungen steckt. »E-Mails sind im Alltag
zu formell.« Mitschüler, die sie gut kenne,
korrigiere sie sogar manchmal, wenn sie
grobe Rechtschreibfehler machten.
Brieffreundschaften, wie sie frühere
Schülergenerationen zuweilen noch prak-
tizierten, werden jedoch nicht mehr ge-
pflegt. »Man schreibt Briefe zum Geburts-
tag«, sagt Clara Eiglsperger, ebenfalls
Mitglied im Schülersprecherinnenteam,
»ewig lange Briefe an meine Freundinnen,
zum Beispiel.« Aber auch das, müsse sie
einräumen, sei »schon weniger geworden«.
Der alemannische Dialekt der Region,
erzählen beide Schülerinnen, mache ihren
Altersgenossen am meisten Schwierigkei-
ten beim richtigen Schreiben. Das Wort
»anderst« oder »anderscht« (für anders)
findet sich sogar in manchen Abiklausuren,
allerdings auch schon in den Achtziger -
jahren.
Das »Comeback des Dialekts« sei offen-
kundig ein Hindernis für korrektes Schrift-
deutsch, meint der Tübinger Wissenschaft-
ler Ulrich Herrmann, 81. Den emeritierten
Professor für Schulpädagogik überraschen
die Gaienhofener Zahlen nicht. »Sie be-
stätigen den Eindruck, den ich bei der Lek-
türe von studentischen Klausuren in den
letzten 40 Jahren bekommen habe.«
In vielen Bereichen der Gesellschaft sei
die Schriftlichkeit, privat oder beruflich,
auf der Strecke geblieben. »Wir sind eine
Hörgesellschaft geworden«, sagt der Päda-
goge, »die meisten konsumieren nur noch
Podcasts, Hörbücher, Radio, Fernsehen
und gestreamte Filme; viele denken, dass
man gar keine gedruckten Texte mehr
braucht.«
Die Hauptursache der nachlassenden
Schreibkompetenzen sieht Herrmann je-
doch in der veränderten Methodik in den
Grundschulen. »In meiner Schulzeit wur-
de an jedem Schultag ein kurzes Diktat
geschrieben.« Seitdem es diesen »Drill«
nicht mehr gebe, steige die Fehlerzahl.
Herrmann ist kein Anhänger einer sol-
chen »Steinzeitpädagogik«, wie er sagt.
Aber auch für die pädagogische Alterna -
tive, ein systematisches Rechtschreib -
training etwa sowie freie schriftliche Aus-
arbeitungen, bleibe in den aktuellen Lehr-
plänen keine Zeit mehr. »Solche Texte
erfordern einen Korrekturaufwand, den
Lehrkräfte nach eigenem Bekunden nicht
mehr erbringen können oder wollen.«
Dass die entscheidenden Weichen be-
reits in der Grundschule gestellt werden,
legen auch die Ergebnisse der sogenannten
Logik-Studie nahe. Ein Team bayerischer
Psychologen hatte die Rechtschreibkom-
petenz Heranwachsender in einer Lang-
zeituntersuchung zwischen 1984 und 2004
beobachtet. Das Ergebnis verblüffte in sei-
ner Eindeutigkeit: »Die Teilnehmer der
Studie« hätten »in der Rechtschreibung
als Zweitklässler dieselbe Leistungsreihen-
folge wie 15 Jahre später« gezeigt. Mit an-
deren Worten: Wer in der Grundschule
das richtige Schreiben nicht gelernt hat,
holt das später nicht mehr auf.
Eine wesentliche Ursache für die schlech-
ten Rechtschreibergebnisse heute dürfte
die Methode »Schreiben nach Gehör«
sein. Das pädagogische Verfahren, das
zumindest in den ersten beiden Klassen
weitgehend auf die Korrektur von Recht-
schreibfehlern verzichtet, setzte sich in
den Neunzigerjahren in vielen deutschen
Grundschulen durch, mit mancherorts
verheerenden Ergebnissen. Nicht wenige
Kinder scheitern noch Jahre später an
den einfachsten Wörtern. Dass sie etwa
den Vogel nicht mit F schreiben dürfen,
ist nun einmal nicht zu hören, man muss
es einfach lernen. Auch die Absolventen
der Gaienhofener Abijahrgänge 2018 und
2019 sind zu einem Teil Opfer dieses pä-
dagogischen Großversuchs geworden.
Inzwischen haben einige Kultusminis-
terien das Prinzip »Schreiben nach Gehör«
ausdrücklich verboten, zu eklatant und fol-
genschwer sind die Schwächen dieser Un-
terrichtsmethode. Stattdessen werden nun
in den Schulen viele Mischformen prak -
tiziert, die den Bedürfnissen der Schreib-
anfänger etwas mehr entsprechen – und
den Wünschen der Eltern.
Der Gaienhofener Direktor Toder hegt
allerdings erhebliche Zweifel, ob »unsere
Gesellschaft wirklich noch so großen Wert
auf eine korrekte Rechtschreibung« lege.
Zu viele Indizien sprächen dagegen. Tat-
sächlich hat sogar sein oberster Dienstherr,
Baden-Württembergs Ministerpräsident
Winfried Kretschmann, zuletzt erklärt, die
Rechtschreibprobleme seien kein »gravie-
rendes Problem« der Bildungspolitik. Es
werde doch immer weniger mit der Hand
geschrieben, argumentierte der Grünen-
politiker, und es gebe viele »kluge Geräte«,
Computer und Smartphones, die Fehler
beseitigen könnten.
Kretschmanns Auslassungen haben
zwar einen Sturm der Entrüstung ausge-
löst, bei seiner eigenen CDU-Kultusminis-
terin etwa oder beim Philologenverband,
aber den Zeitgeist hat der Ministerpräsi-
dent auf seiner Seite. Längst mehren sich
die Stimmen jener, die in den Klagen über
die Flut von Rechtschreibfehlern nur das
alte Lamento über den Untergang des
Abendlands erkennen wollen. Das Behar-
ren auf korrekter Rechtschreibung gilt vie-
len als uncool, als hausbacken und zopfig.
Aber es melden sich auch professionelle
Stimmen, die Zweifel am Primat der Feh-
lerlosigkeit anmelden. »Rechtschreibung
ist nicht so wichtig«, sagt etwa der Trierer
Anglist Werner Schäfer in einem Beitrag
für den SWR. »Ein Text, der viele Recht-
schreibfehler hat«, so Schäfers provokante
These, »kann gut sein, und ein Text, der
keine Rechtschreibfehler hat, kann schlecht
sein.« Auch der Tübinger Pädagoge Herr-
mann meint, es sei vielleicht nicht ganz so
entscheidend, dass ein Schüler oder eine
Schülerin wisse, ob man »Rhythmus« nun
mit einem oder zwei »h« schreibt. »Haupt-
sache, man versteht, was gemeint ist.«
Wichtiger sei es doch, dass Jugendliche in
der Lage seien, komplexe Inhalte zu ver-
stehen und sich auch selbst klar und ver-
ständlich auszudrücken, schriftlich und
mündlich.
Seine Kollegin Julia Knopf, 40, wider-
spricht entschieden. »Wo hört denn dann
die Fehlertoleranz beim Wort ›Rhythmus‹
auf?«, fragt Knopf, die als Professorin für
Deutschdidaktik an der Universität des
Saarlands lehrt. »Was machen wir«, fragt
sie weiter, »wenn ein Schüler plötzlich
›Rhytmusst‹ schreibt, weil er denkt, das
Wort habe etwas mit ›müssen‹ zu tun?«
Irgendwann seien solche Fehlschreibungen
komplett unverständlich. Wehret den
Anfängen, lautet die Devise der Wissen-
schaftlerin.
Knopf leitet das Forschungsinstitut Bil-
dung Digital in Saarbrücken. Gerade für
den Umgang mit digitalen Medien, so ar-
gumentiert sie, sei korrekte Rechtschrei-
bung unerlässlich. »Wenn ich nicht ortho-
grafisch korrekt schreiben kann, versteht
man mich nicht«, sagt Knopf. Selbst wenn
die Hochschullehrerin ihren Mitarbeitern
WhatsApp-Nachrichten schicke, achte sie
auf eine korrekte Schreibweise. Das Ge-
hirn könne nun einmal Texte, die allge-
meinverbindlichen Standards folgen, viel
einfacher verarbeiten.
Den Einwand, dass Rechtschreibpro-
gramme in Zukunft die Fehlerkorrektur
übernehmen könnten, lässt die Digitali -
sierungsexpertin nicht gelten. Keine noch
so gute Software sei in der Lage, alle nur
denkbaren Verballhornungen und Text-
trümmer zu entziffern. »Wer die Normen
nicht kennt, wird mit den Programmen
nicht fehlerlos schreiben können«, sagt
Knopf.
Außerdem sei es nicht sinnvoll, dass sich
der Mensch in eine totale Abhängigkeit
von solchen Hilfsmitteln begebe. In einer
technisierten Welt sei Autonomie, die
Hoheit über den eigenen Text, ein zentra-
ler Wert. Die Saarbrücker Professorin plä-
diert deswegen für einen entschiedenen
Kurswechsel: »Wir müssen wieder mehr
Bewusstsein für die Orthografie schaffen,
bei Jugendlichen wie Erwachsenen.«
Ob dieses Ziel noch erreichbar ist, weiß
Julia Knopf natürlich auch nicht. An vielen
Universitäten, in Saarbrücken ebenfalls,
wurden in den vergangenen Jahren Recht-
schreibseminare eingerichtet, die den Stu-
dierenden jene Grundfertigkeiten in Or-
thografie, Grammatik und Interpunktion
vermitteln sollen, die sie entweder in der
Schule nicht gelernt oder danach wieder
vergessen haben. Messbar ist der Erfolg
dieser Kurse bislang aber kaum.
Die Rechtschreibkompetenz der Deut-
schen hat in den vergangenen Jahrhun-
derten immer wieder gute und schlechte
Phasen erlebt. Zu Zeiten der Weimarer
Klassik etwa schrieben selbst gelehrte
Geister nicht nach einheitlichen Regeln,
Goethe selbst soll sogar gesagt haben,
eine »konsequente Rechtschreibung« sei
ihm »immer ziemlich gleichgültig« gewe-
sen. Erst 1880, mit der Veröffentlichung
des ersten Dudens, erhielt die bis dahin
noch nicht genormte Schriftsprache ein
festes Korsett. Dank eines Schulsystems,
in dem vor allem auf Drill, Zucht und Ord-
nung geachtet wurde, ließ sich das Regel-
werk über mehrere Generationen hinweg
durchsetzen. Mit dem Wertewandel in
den Sechzigerjahren erodierte jedoch
diese autoritäre Pädagogik – und der Per-
fektionsanspruch in der Rechtschreibung
offenbar ebenfalls.
Erfunden wurde der Duden im Zuge der
Industrialisierung und des damit einherge-
henden fundamentalen Wandels von Kul-
tur und Gesellschaft. Die Sprache sollte
den Anforderungen des modernen Kapi-
talismus genügen, dazu zählen vor allem
wissenschaftliche Präzision und Eindeu-
tigkeit. Auch die digitalisierte Welt von
heute erfordert exakte Begriffe für kom-
plexe Strukturen und eine noch nie da ge-
wesene Genauigkeit auf minimalem Raum.
Ob diese Welt ohne eine korrekte Recht-
schreibung zurechtkommen kann, wird
sich erst noch zeigen. Der Verdacht liegt
allerdings nahe, dass sie es muss.
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Re: Nach mir die Sinnflut

Сообщение Boyar » Вт мар 16, 2021 09:43

усталый нищеброд писал(а):Mit dem Wertewandel in den Sechzigerjahren erodierte jedoch diese autoritäre Pädagogik...

Naiv ist höchstens derjenige, der denkt, dass seine Ansicht die einzig richtige ist.
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Re: Nach mir die Sinnflut

Сообщение усталый нищеброд » Вт мар 16, 2021 18:03

Оффтопик
Boyar писал(а):
Martin Doerry писал(а):Mit dem Wertewandel in den Sechzigerjahren erodierte jedoch diese autoritäre Pädagogik...

Naiv ist höchstens derjenige, der denkt, dass seine Ansicht die einzig richtige ist.
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